Jean-Louis Le Tacon: Auf der Suche nach neuen Formen

02.05.2017

Jean-Louis Le Tacon: Auf der Suche nach neuen Formen

Das VideoFest hat Le Tacon Fragen gestellt - insbesondere hinsichtlich seines Verhältnisses zu der Arbeit mit Video:

"Als ich anfing, Bilder zu schaffen, habe ich im Bereich des Films begonnen (Cochon qui s'en dedit, Das Schwein, das widerruft, 1980). Es handelte sich um einen Film in Super 8. Seinerzeit interessierte mich an Super 8 die handwerkliche Seite der Herstellung (die finanziellen und materiellen Zwänge waren unbedeutend), die mich von Anfang an zum Experimentieren und zum Ausprobieren von Ausdrucksformen anregte. Cochon qui s'en dedit ist zwar zunächst einmal ein Dokumentarfilm, aber mit meinen damaligen Mitteln habe ich mehr als eine dokumentarische Arbeit geschaffen. Es ist eine Zwischenform, in der uns Bilder wie mit Halluzinationen in den Bereich des Fiktiven versetzen. Daß ich mich später für das Medium Video entschieden habe, hängt damit zusammen, daß ich wesentlich mehr Experimentier- Möglichkeiten bekam und ständig die Genres wechseln konnte. Ich neige dazu, die stereotypen Genres zu etwas anderem zu entwickeln. Ein Tanzvideo wie Waterproof ist nicht nur einfach ein Tanzvideo, sondern auch eine Fiktion, mal voller Angst, mal voller Sinnlichkeit. Ein Porträt wie An Abad Bourdelles, An Emsaver ist mehr als nur ein Porträt, es ist zusätzlich auch eine Arbeit über die Meereslandschaften. Manchmal fragt man mich, was denn das alles mit Video zu tun habe: Video ist genau der Bereich, in dem man mit allen Möglichkeiten hinsichtlich der Themen und der Ausdrucksformen experimentieren kann. Ich mag vor allem die Arbeit mit der Videokamera Paluche (extrem kleine und bewegliche Kamera, d. Red.), sie liegt in der hohlen Hand und ist wie ein Auge an den Fingerspitzen. Mit ihr kann ich die Realität ganz subjektiv und unkonventionell wahrnehmen. Ihr großes Weitwinkel-Objektiv entstellt die Perspektiven. Diese Kamera arbeitet mit Tastsinn, sie ermöglicht mir, abgehackte oder fließende, zärtliche oder aggressive Bewegungen aufzunehmen. Und dann kann ich gleich beim Drehen meine eigenen Emotionen in die Bilder einbringen. Ich verwende alle möglichen Kameras und Fahrzeuge, um sie fortzubewegen. Das angestrebte Ziel besteht darin, von den Menschen und den Dingen eine andere Sicht zu bieten, eventuell sogar eine nicht menschliche Sicht. Man könnte von einer "Fischkamera" sprechen, wenn man an die Kamerabewegungen in Waterproof denkt, oder von einer "Vogelkamera" im Zusammenhang mit den in 8 mm Video gedrehten Aufnahmen von Terra incognita, wo die Kamera an einem fliegenden Drachen befestigt war. Die gleiche Art von Bildern könnte man auch mit Filmkameras erreichen. Abel Gance hat uns das mit seinem 'Napoleon' schon seit langem bewiesen. Die Video-Ausrüstungen sind jedoch leichter handhabbar, vielfältiger, besser an die experimentellen Bedingungen anzupassen und in gewisser Hinsicht auch billiger. Die Möglichkeit, das Ergebnis der Aufnahmen sofort einschätzen zu können, führt außerdem dazu, daß man verstärkt visuelle Sucharbeit leistet. Und schließlich kann man dank der Möglichkeit, mit großen Magnetbandlängen zu arbeiten, gute Aufnahmen vom Meer und von verlassenen Gegenden machen. Ich konnte z. B. in L'arpenteur des mers (Der Vermesser der Meere) in feststehender Aufnahme das Zuströmen und Zurückströmen des Meeres mehrere Male vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang filmen. Das ist nicht nur eine technische Übung, sondern auch eine Übung zum Anschauen und Wahrnehmen der kosmischen Bewegungen im Augenblick des Drehens. Beim Schneiden interessieren mich natürlich die unzähligen Quellen, die das anfängliche Bild in höchstem Maße beeinflussen. Nach der Produktion wird alles geordnet oder besser gesagt, neu geordnet. Das Licht wird verfeinert, die Geschwindigkeit der Kamerabewegungen neu berechnet, der Hintergrund eingegeben, die Farbschattierung definiert. Beim Drehen wird ja nur das Grundlagenmaterial produziert, das dann umgeschmolzen und im Augenblick der Nachproduktion in eine definitive Komposition gebracht wird. Diese Situation, daß man die endgültigen Entscheidungen bis zum letzten Augenblick hinausschieben kann, scheint meinem Charakter besonders entgegen zu kommen. Man muß überhaupt kein strenges Schnittprogramm einhalten, sondern ständig improvisieren, indem man die Hinweise des Experimentierprotokolls befolgt. Noch einige Überlegungen zur elektronischen Bildbearbeitung: Hier befinden wir uns in einer schwierigen, aber interessanten Situation. Was wir vor einigen Jahren als "Video-Technik" bezeichnet haben, ist eine Modeerscheinung und sogar eine Banalität geworden. Musik-Clips, Vorspannbänder, Video- Aufmachung von Fernsehprogrammen sind die Referenzen der Video-Technik. Der gezielte Einsatz der neuen digitalen Anlagen, die neuen phantastischen Wirkungen beweisen in den Augen der Zuschauer glaubhaft, daß Video das technische Non Plus Ultra ist. Es steht für das Prickelnde, das Angenehme, das Spielerische. Deshalb verlangen die Medien und ihre Bediensteten auch vor allem diese Art Bilder; die Haushaltsmittel werden insbesondere für Projekte verwendet, die "Video machen" und diese Modelle imitieren. In Frankreich setzt sich gegenwärtig auch ein neuer Terminus durch: man spricht nicht mehr von Video, sondern von "neuen Techniken". "Video zu machen" interessiert mich wenig. Alle Video-Ausrüstungen, auch die perfektesten, müssen so eingesetzt und 'umgesetzt' werden, daß sie einer wirklich schöpferischen Arbeit dienen. Das möchte ich mitteiien, das möchte ich spüren lassen, das wird mich mit Hilfe dieser Ausrüstungen auf meiner Suche nach neuen Formen leiten. Um es noch genauer zu formulieren: ich versuche herauszufinden, welche Formen ich anwenden muß, damit diese Geräte dem Gestalt verleihen, was ich sagen und an Empfindungen weitergeben möchte. Deshalb interessieren mich auch die Ausrüstungen am meisten, die die größten Möglichkeiten bieten, und nicht so sehr die Geräte mit Standardwirkung. Für mich hat immer mein Anliegen den Vorrang, mein Thema, das in meinen Emotionen, in der Geschichte, in meinen Geschichten verankert ist."

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